Analyse
7. Juli 2022

Hält Italien steigende Renditen aus?

Wird Italien von der steigenden Zinslast erdrückt, sollten sich Inflation und Zinsen dauerhaft auf einem erhöhten Niveau einpendeln? Die Zinsbelastung stiege in den kommenden Jahren zwar erheblich, gemessen an den Staatseinnahmen würde allerdings kein kritischer Wert erreicht. Die Schuldentragfähigkeit wäre aus wirtschaftlicher Sicht somit nicht gefährdet. Italien könnte seinen Verpflichtungen nachkommen. Davon abgesehen dürften die übrigen Euroländer, die EU und die EZB im Zweifel alles daransetzen, das Land vor Zahlungsschwierigkeiten zu bewahren. Das Hauptrisiko mit Blick auf die italienischen Staatsschulden liegt unserer Ansicht nach daher nicht bei der Zahlungsfähigkeit, sondern bei der Zahlungswilligkeit.

Tsunami am Anleihenmarkt

Angesichts rekordhoher Teuerungsraten, die im Herbst 2022 sogar in den zweistelligen Bereich klettern könnten, und der Aussicht auf ein jahrelanges Überschiessen des eigenen Inflationsziels steht die EZB unter gewaltigem Druck, sich dem Verbraucherpreisschub entgegenzustellen. Tatsächlich hat die Notenbank ihre Passivität abgelegt und Zinsanhebungen um 25 Bp im Juli bzw. 50 Bp im September angekündigt. Diesen Zinsschritten sollten angesichts der äusserst ungünstigen Inflationsaussichten im Oktober und Dezember sowie im 1. Quartal 2023 weitere Anhebungen folgen – mindestens bis zum Erreichen des neutralen Zinssatzes von etwa 1,5%.

Abb. 1: Deutlicher Renditeanstieg

Quellen: Macrobond, Bantleon

Die hohe Inflation und die Aussicht auf steigende Leitzinsen haben zu einem Ausverkauf an den Anleihenmärkten geführt. Die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen beispielsweise ist binnen weniger Monate von -0,40% auf zwischenzeitlich fast 2,00% nach oben geschnellt. Bei französischen Staatspapieren ging es parallel von -0,05% auf bis zu 2,40%. Die Rendite 10-jähriger italienischer Staatsanleihen sprang sogar von 0,75% auf in der Spitze mehr als 4,00% (vgl. Abbildung 1).

Der Renditeanstieg italienischer Staatsanleihen fiel somit etwa 85 Bp stärker aus, als es bei Bundesanleihen der Fall war (vgl. Abbildung 2). Hintergrund dieser Spreadausweitung ist die Sorge, Italien könne angesichts seiner Staatsverschuldung in Höhe von 2.700 Mrd. EUR bzw. gut 150% des nominalen BIP von der steigenden Zinslast erdrückt werden. Wir wollen mit der folgenden Analyse zeigen, dass dies keineswegs so sein muss und Italien auch mit Renditen auf dem aktuellen Niveau bzw. darüber leben kann.

Abb. 2: Italienische Risikoprämien ziehen an

Quellen: Macrobond, Bantleon
Auf die Annahmen kommt es an

Zunächst muss festgehalten werden, dass unter Verwendung unrealistischer Annahmen für jedes Land der Welt ein Zahlungsausfall konstruiert werden kann. Die Aussage »Italien kann Renditen von 5% oder mehr nicht verkraften, ein Default ist daher unausweichlich« ist nicht zielführend. Genauso liesse sich argumentieren, Deutschland oder der Schweiz drohe bei Renditen von 10% oder mehr ein Zahlungsausfall. Einer sinnvollen Analyse muss ein sinnvolles Szenario zugrunde liegen. Wir haben ein solches realistisches Fallbeispiel entwickelt und werden es im Folgenden durchspielen.

Kernelement unseres Szenarios ist die Annahme eines strukturellen Renditeanstiegs in der Eurozone bis zum Ende dieses Jahrzehnts in einem Umfeld anhaltend hoher Inflationsraten. Bei den Renditen 10-jähriger Bundesanleihen setzen wir ein Zielniveau von 3,5% an. Das entspricht unserer Schätzung des nominalen BIP-Wachstums der Eurozone (1,0% Realwachstum, 2,5% Inflation).

Was die Risikoprämie italienischer Staatspapiere gegenüber Bundesanleihen angeht wird die EZB nach unserer Einschätzung dafür sorgen, dass sie nicht nachhaltig über 200 Bp ansteigt. Dauerhaft höhere Spreads kann die EZB nicht zulassen, da diese den geldpolitischen Transmissionsmechanismus untergraben würden. Um das zu bewerkstelligen, wird die Zentralbank auf das in Kürze zur Verfügung stehende Antifragmentierungsinstrument zurückgreifen. Die Rendite 10-jähriger Buoni del Tesoro Poliannuali (BTP) erreicht ihren Hochpunkt in unserem Szenario daher bei 5,5%.

Der durchschnittliche Zinssatz, den der italienische Staat auf seine Staatsschulden bezahlen müsste, läge allerdings nicht bei 5,5%. Die ausstehenden Schuldpapiere haben eine mittlere Laufzeit von etwa sieben Jahren, sodass wir die Rendite für BTPs mit 7-jähriger Laufzeit zugrunde legen. Die bewegte sich in den vergangenen zwölf Jahren im Schnitt 50 Bp unterhalb der Rendite 10-jähriger Papiere. Für unser Fallbeispiel ergibt sich mithin eine Rendite von 5,0%, die Italien ab Ende dieses Jahrzehnts auf seine ausstehenden Staatsanleihen bezahlen müsste (anstatt von 2,3% im Jahr 2021).

Abb. 3: Durchschnittsrendite auf italienische Staatsschulden im Jahr 2021 auf Rekordtief

Quellen: Macrobond, EU-Kommission, Bantleon

Infolge der angesprochenen durchschnittlichen Laufzeit der italienischen Staatsschulden von etwa sieben Jahren steigt die Zinsbelastung zudem nicht sprunghaft, sondern allmählich. Bis der von uns unterstellte Durchschnittszinssatz von 5,0% für die gesamten ausstehenden Verbindlichkeiten erreicht ist, wird es rund sieben Jahre bzw. bis 2029 dauern (vgl. Abbildung 3).

Mit Blick auf den Schuldenstand unterstellen wir, dass dieser in Zukunft um 3,0% pro Jahr wachsen wird. Das entspricht der durchschnittlichen jährlichen Zunahme zwischen 1999 und 2019.

Die Zinslast steigt erheblich, ist aber verkraftbar

Unter diesen Annahmen wird die Zinslast Italiens von knapp 16 Mrd. EUR pro Quartal im Jahr 2021 auf rund 43 Mrd. EUR pro Quartal im Jahr 2030 anwachsen (vgl. Abbildung 4). Das wären jährlich etwa 57 Mrd. EUR mehr, als im Jahr 1996 geschultert werden mussten. Auf den ersten Blick mag dieser massive Anstieg entmutigend wirken. Setzt man die Zinsaufwendungen jedoch in Relation zu den Staatseinnahmen, verlieren sie an Schrecken.

Abb. 4: Gemessen an den Einnahmen stiege die Zinsbelastung nicht so drastisch

Quellen: EU-Kommission, Istat, Bantleon

Unseren Berechnungen zufolge stiege der Anteil der Staatseinnahmen, der für Zinszahlungen aufgewendet werden müsste, von 7,5% im Jahr 2021 auf 14,5% im Jahr 2030. Damit bliebe man weit hinter dem zurück, was Mitte der 1990er Jahre für die Zinszahlungen ausgegeben wurde. 1996 beispielsweise waren es 26,5% (vgl. Abbildung 4). Ein solcher Wert würde heutzutage erst bei einem Renditeniveau von etwa 9% erreicht werden.

Wir gehen davon aus, dass die staatlichen Einnahmen in den kommenden Jahren im Ausmass des nominalen BIP, sprich 3,5% pro Jahr zunehmen. Das klingt im ersten Moment zwar nach viel; zwischen 1995 und 2021 lag das Plus bei durchschnittlich 2,4%. Allerdings basiert unser Szenario langfristig höherer Renditen ja gerade auf der Annahme beständig höherer Teuerungsraten und somit auch auf einem stärkeren Zuwachs des nominalen BIP.

Italien sähe sich im Fall anhaltend höherer Renditen also einem kräftigen Zuwachs bei den Zinsausgaben für seine Staatsschulden gegenüber. Untragbar wären die jedoch nicht. In der Vergangenheit wurden erheblich höhere Zinsbelastungen gemeistert.

Wie ist es um die Schuldentragfähigkeit bestellt?

Abgesehen vom zu schulternden Zinsaufwand stellt sich für den Fall nachhaltig steigender Renditen auch die Frage nach der langfristigen Schuldentragfähigkeit. Diese ist in der Regel immer dann gefährdet, wenn der durchschnittlich auf die Staatsschulden zu bezahlende Zinssatz grösser ist als das nominale BIP-Wachstum bzw. das Wachstum der staatlichen Einnahmen. In dem von uns gewählten Beispiel wäre genau das der Fall: Einem Zinssatz von 5,0% stünde ein BIP-Wachstum von 3,5% gegenüber. Um in einer solchen Situation dem sogenannten Schneeballeffekt – Zinszahlungen müssen über neue Schulden finanziert werden, wodurch die Zinsbürde noch grösser wird – zu entgehen, muss zwingend ein positiver Primärsaldo erwirtschaftet werden. Das heisst, die Staatsausgaben exklusive des Schuldendiensts müssen gemessen am BIP mindestens der Differenz zwischen durchschnittlichem Zinssatz sowie nominalem BIP-Wachstum entsprechen. In unserem Fall also 1,5% (5,0% - 3,5%).

Abb. 5: Italien hat bewiesen, dauerhaft einen positiven Primärsaldo erzielen zu können

Quellen: IWF, EU-Kommission, Bantleon

Italien hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es positive Primärüberschüsse dieser Grössenordnung über einen langen Zeitraum aufbringen kann. Zwischen 2000 und 2019 lag der Primärüberschuss durchschnittlich bei 1,6% und erreichte in 13 von 20 Jahren mindestens 1,5% (vgl. Abbildung 5). Wir halten es daher für realistisch, dass es der Regierung in Rom zukünftig gelingen kann, dauerhaft einen positiven Primärsaldo in Höhe von 1,5% bis 2,0% zu erzielen. Dabei sind die Zahlungen aus dem EU-Wiederaufbaufonds berücksichtigt. Ausserdem nehmen wir an, dass die Transferzahlungen von den Kern-Euroländern bzw. aus EU-Mitteln in Zukunft tendenziell noch zunehmen.

Unter den genannten Annahmen wäre Italien mithin in der Lage, seine Staatsschuldenquote von derzeit gut 150% bis 2030 auf knapp unter 140% und bis 2050 auf unter 130% zu senken (vgl. Abbildung 6).

Abb. 6: Schuldentragfähigkeit könnte auch bei dauerhaft höheren Renditen gewährleistet werden

Quellen: EU-Kommission, Bantleon
Fazit

Wie wir in unserer Szenarioanalyse gezeigt haben, sind moderat steigende Renditen im Zuge einer restriktiveren Geldpolitik der EZB nicht automatisch der Sargnagel für Italien. Anders als in den Medien immer wieder behauptet, wäre Italien durchaus in der Lage, seine Verbindlichkeiten weiterhin aus eigener Kraft zu bedienen, und würde nicht ausweglos in einen Zahlungsausfall rutschen.

Ganz ohne Anstrengungen wird es jedoch nicht gehen. Um den notwendigen Primärüberschuss zu erzielen, sind trotz der erwarteten höheren Steuereinnahmen infolge des stärkeren BIP-Wachstums zusätzliche einnahmeseitige und/oder ausgabenseitige Massnahmen notwendig. Dazu zählen die Verbreiterung der Steuerbasis, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung, Steuererhöhungen sowie Ausgabenkürzungen.

Alternativ bliebe nur das »Herauswachsen« aus den Schulden, sprich noch höhere Zuwachsraten beim nominalen BIP. Das erscheint uns jedoch wenig realistisch. Im Fall einer höheren Inflation stiegen die Renditen vermutlich noch stärker. Für ein höheres reales BIP-Wachstum müsste Italien tiefgreifende Strukturreformen zur Produktivitätssteigerung umsetzen. Hieran scheitern Regierungen allerdings schon seit Jahrzehnten.

Davon abgesehen sind wir überzeugt, dass die übrigen Euroländer, die EU und die EZB im Zweifel alles daransetzen würden, Italien vor Zahlungsschwierigkeiten zu bewahren. Mit dem ESM steht dazu bereits jetzt ein Instrument zur Verfügung. Darüber hinaus stellt der EU-Wiederaufbaufonds unserer Ansicht nach den Einstieg in eine Schuldenvergemeinschaftung dar. In Zukunft dürfte es weitere Schritte in diese Richtung geben. Die Diskussion über die Abfederung der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs über ein neues EU-Programm ist bereits im Gange. Auch das Thema Eurobonds ist noch nicht vom Tisch.

Das Hauptrisiko mit Blick auf die italienischen Staatsschulden liegt unserer Ansicht nach daher nicht bei der Zahlungsfähigkeit, sondern bei der Zahlungswilligkeit. Steueranhebungen und Ausgabenkürzungen bedeuten, der Wählerschaft Geld wegzunehmen. Es ist durchaus möglich, dass künftige Regierungen hierzu nicht bereit sind. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die EU-Mitgliedsländer und die EZB auch dann bereit sind, Italien zur Seite zu springen.

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