
Eurozone: Scharfer Rückgang der Inflationsrate vorgezeichnet
In der Eurozone verdichten sich die Anzeichen für einen scharfen Rückgang der Inflationsrate im laufenden Jahr. Per Ende 2023 dürfte die Teuerungsrate auf Werte nahe 2,0% sinken. Viele Prognostiker dürften vom Ausmass des Rückgangs überrascht werden. Im Gegensatz zur Gesamtinflationsrate wird die Kerninflationsrate nicht gleich ab Jahresbeginn auf einen steilen Abwärtstrend einschwenken. In der zweiten Jahreshälfte ist ein signifikanter Rückgang jedoch auch bei diesem Inflationsmass sehr wahrscheinlich. Im Zuge des markanten Inflationsrückgangs werden sich auch die Inflationserwartungen der Konsumenten, der Arbeitnehmer und der Finanzmarktakteure zurückbilden. Wir gehen daher davon aus, dass der EZB-Rat den Leitzins nach zwei weiteren Zinsschritten im Februar und im März nicht weiter anhebt.
Die Verbraucherpreise sind im abgelaufenen Jahr in der Eurozone um 8,4% gestiegen und damit so stark wie nie seit Bestehen der Währungsunion. Man muss schon bis ins Jahr 1982 zurückgehen, um – für eine fiktive Eurozone – eine grössere Preissteigerung festzustellen. Gemäss Eurostat erreichte die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt damals 10,2% (vgl. Abbildung 1).
Massgeblich verantwortlich für den letztjährigen Teuerungsschub waren die Energiepreise, die gegenüber 2021 um 37,0% zugelegt haben. Kräftig nach oben ging es auch mit den Nahrungsmittelpreisen. Gegenüber dem Vorjahr beläuft sich der Anstieg auf 10,5%. Verglichen mit derart grossen Zuwachsraten nimmt sich das Plus bei der Kerninflation – ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel – mit 3,9% geradezu bescheiden aus, obwohl es sich ebenfalls um einen Rekordwert handelt. Die bis dato stärkste Steigerung seit Bestehen der Eurozone wurde bei diesem Inflationsmass im Jahr 2002 mit 2,4% verzeichnet. Lediglich bei den Preisen für Genussmittel – das sind in erster Linie Alkohol und Tabak – bleibt der Zuwachs mit 3,3% erheblich hinter bisherigen Höchstwertwerten von bis zu 7,5% zurück.
Abb. 1: 2022 war ein Ausnahmejahr

* Harmonisierter Verbraucherpreisindex
Nachdem das zyklische Inflationshoch im Oktober mit 10,6% erreicht wurde, zeichnet sich für das laufende Jahr ein scharfer Rückgang der Teuerungsrate ab. Ausschlaggebend sind erneut die Energiepreise. Zum einen werden die in zahlreichen Euroländern eingeführten Gas- und Strompreisbremsen ihre Wirkung entfalten, zum anderen hat der rückläufige Ölpreis einen inflationsdämpfenden Effekt (vgl. unsere Analyse Eurozone:Energiepreise werden vom Preistreiber zur Inflationsbremse vom 15. November 2022). Der inflationstreibende Beitrag von Gas, Strom, Kraftstoffen und Heizöl wird unseren Berechnungen zufolge von 4,1%-Punkten im abgelaufenen Jahr auf 0,0%-Punkte zurückgehen (vgl. Abbildung 2). Infolge des jüngsten Rückgangs der Preise für Kraftstoffe, Heizöl und Gas haben wir unsere Prognose von Mitte November mithin um 0,5%-Punkte nach unten korrigiert. Verharrte der Grosshandelspreis für Gas das ganze Jahr auf dem zuletzt erreichten Niveau von etwa 75 EUR/MWh, ergäbe sich 2023 sogar ein negativer Wachstumsbeitrag der Energiepreise zur Inflationsrate.
Abb. 2: Energiepreise werden vom Inflationstreiber zur Inflationsbremse

* Prognose Bantleon
Dabei werden die Energiepreise selbst mit dem von uns unterstellten Gaspreis in Höhe von durchschnittlich 130 EUR/MWh insbesondere im 2. Halbjahr deutlich inflationsdämpfende Effekte entfalten. Im 4. Quartal dürfte deren Beitrag zur Teuerungsrate bei -1,5%-Punkten liegen. In einigen Mitgliedsländern, wie beispielsweise den Niederlanden, werden die Energiepreiseffekte so markant ausfallen, dass die Teuerungsrate 2023 zeitweilig gar in den negativen Bereich abtauchen dürfte.
Im Gegensatz zu den Energiepreisen zeichnet sich bei den Nahrungsmittelpreisen (Gewicht am Warenkorb: 16,6%) kein scharfer Richtungswechsel ab. Es verdichten sich jedoch zumindest die Hinweise, dass das Inflationshoch auch hier nicht mehr weit entfernt ist. Wir sind darüber hinaus zuversichtlich, dass der Preisauftrieb im Verlauf des Jahres spürbar nachlässt.
Die Absatzpreiserwartungen der Hersteller verarbeiteter Nahrungsmittel (Gewicht am Warenkorb: 11,7%) in der Eurozone beispielsweise sind seit Monaten im Trend rückläufig, nachdem sie im April ein Allzeithoch erreicht hatten. Zahlreiche Faktoren sprechen dafür, dass sich diese Abwärtsbewegung fortsetzt. Neben der sich abschwächenden Nachfrage sind zu nennen: die Entspannung bei den Energiepreisen, merklich rückläufige Frachtkosten und der wieder erstarkte Euro. In der Vergangenheit sind die Absatzpreiserwartungen der Vorjahresveränderung der Preise verarbeiteter Nahrungsmittel um sieben Monate vorausgelaufen (vgl. Abbildung 3).
Abb. 3: Trendwende bei verarbeiteten Nahrungsmitteln ist in Sicht

Ein weiteres Indiz für eine bevorstehende Trendwende bei den Preisen verarbeiteter Nahrungsmittel liefert die Entwicklung des Milchpreises auf Produzentenebene. In Deutschland hatte dieser ebenfalls im April einen Höchstwert erreicht und ist seitdem um 23% gefallen. In der Vergangenheit folgten die Preise für Milchprodukte auf Verbraucherebene der Preisentwicklung auf Erzeugerebene mit etwa einem halben Jahr (vgl. Abbildung 4). Milch, Joghurt, Käse und Co. machen immerhin rund 2,0% am Warenkorb aus.
Abb. 4: Der Preisauftrieb bei Milchprodukten dürfte bald zum Stillstand kommen

Bei den Preisen unverarbeiteter Nahrungsmittel (Gewicht am Warenkorb: 5,0%) deutet sich ebenfalls eine Topbildung an. So dürfte zum Beispiel bei Fleisch das Inflationshoch zu Beginn des laufenden Jahres erreicht werden (vgl. Abbildung 5). Infolge von Basiseffekten sollte die Vorjahresrate im Anschluss rasch wieder sinken. Eine ähnliche Entwicklung erwarten wir bei Gemüse und Obst.
Abb. 5: Der schlimmste Preisschub dürfte auch bei unverarbeiteten Nahrungsmitteln vorbei sein

* basierend auf Grosshandelspreisen für Schweine-, Rind-, Kalb- und Lammfleisch
Da die Nahrungsmittelpreisinflation allerdings am oder in der Nähe des Hochpunkts in das neue Jahr startet und erst im Verlauf des Jahres spürbar nachgeben wird, erwarten wir im Jahresdurchschnitt mit gut 10,0% eine quasi ebenso starke Steigerung wie 2022.
Wie oben bereits erwähnt, war der unterliegende Preisauftrieb, gemessen an der Kerninflationsrate – ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel – im abgelaufenen Jahr mit 3,9% ebenfalls so stark wie nie zuvor seit Beginn der Währungsunion. Unseren Berechnungen zufolge wurde ein stärkerer Anstieg der Kerninflation im Gebiet der heutigen Eurozone zuletzt 1993 verzeichnet (vgl. Abbildung 6).
Abb. 6: Kerninflation so hoch wie zuletzt zu Beginn der 1990er Jahre

* vor 1999 ohne Energie und unverarbeitete Nahrungsmittel
Im Gegensatz zur Gesamtinflationsrate wird die Kerninflationsrate nicht gleich ab Jahresbeginn auf einen steilen Abwärtstrend einschwenken. Stattdessen rechnen wir bis Mitte 2023 mit Werten um 5,0%. In der zweiten Jahreshälfte ist ein signifikanter Rückgang jedoch sehr wahrscheinlich. Für Ende des Jahres prognostizieren wir eine Vorjahresrate nahe 3,0%. Im Jahresdurchschnitt ergäbe sich so ein Anstieg des Kernindex um 4,5%.
Für die relative Hartnäckigkeit des unterliegenden Preisauftriebs sind im Wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: zum einen der anziehende Lohndruck und zum anderen Zweitrundeneffekte des letztjährigen Energiepreisschubs.
Viele Unternehmen haben ihre Preise 2022 zwar bereits merklich angehoben, allerdings dürften zahlreiche Anbieter die traditionell zu Jahresbeginn stattfindenden Preisanpassungen nutzen, um nochmals einen Teil der gestiegenen Kosten auf die Konsumenten abzuwälzen. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass der Kernindex im 1. Quartal noch stärker zulegt als im 1. Quartal 2022, als die Preise bereits deutlich spürbarer angezogen hatten als im Schnitt der sieben Jahre vor Ausbruch der Corona-Pandemie (vgl. Abbildung 7).
Abb. 7: Im 2. Halbjahr werden coronabedingte Basiseffekte schlagend

* ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel,
** Prognose Bantleon
Ab dem Frühjahr und vor allem in der zweiten Jahreshälfte erwarten wir eine Abschwächung des Preisauftriebs. Verglichen mit 2022 sollte der Kernindex dann langsamer steigen (vgl. Abbildung 7). Hintergrund ist das Abebben der Corona-Nachholeffekte vor allem bei Freizeitangeboten. Die sich entladende Nachfrage hatte unter anderem bei den Preisen für Beherbergungsdienstleistungen, Reisen, Freizeitaktivitäten, Flugtickets etc. teils erhebliche Aufschläge zur Folge. Die fallen nun sukzessive aus der Inflationsberechnung. Vielfach zeichnet sich eine Trendwende bereits jetzt ab (vgl. Abbildung 8).
Abb. 8: Inflationstrend hat vielfach bereits gedreht

Ähnliches gilt für zahlreiche Güter, die sich infolge von coronabedingten Lieferschwierigkeiten bzw. einer temporär stark erhöhten Nachfrage teils kräftig verteuert haben. Ein plakatives Beispiel sind die Preise für Gebrauchtwagen (vgl. Abbildung 8). Zu nennen sind aber auch Unterhaltungselektronik und Sportgeräte.
Trotz des sich für das Frühjahr abzeichnenden Überschreitens des zyklischen Kerninflationshochs wird der unterliegende Preisauftrieb auch in der zweiten Jahreshälfte stärker sein als in den Jahren vor der Pandemie. Ausschlaggebend ist das anziehende Lohnwachstum.
Abb. 9: Steigender Lohndruck bremst den Rückgang der Kerninflation

* ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel
Nachdem die Tariflöhne 2022 voraussichtlich um 2,9% zugelegt haben, deutet sich für das laufende Jahr vor dem Hintergrund der bis dato vorliegenden Tarifabschlüsse eine Steigerung um etwa 4,0% an. Die Unternehmen werden diesen neuen Kostenschub zumindest teilweise an ihre Kunden weitergeben, was den Rückgang der Kerninflationsrate im 2. Halbjahr bremst.
Mit Blick auf den Verbraucherpreisindex leitet sich aus unseren Prognosen für die Kernrate sowie für die Energie- und Nahrungsmittelpreise ein jahresdurchschnittlicher Zuwachs um 5,0 % ab. Per Ende 2023 rechnen wir mit Werten nahe 2,0% (vgl. Abbildung 10).
Für 2024 und 2025 prognostizieren wir eine Inflationsrate von jeweils etwa 2,0%. Einer infolge des erwarteten soliden Lohnwachstums erhöhten Kernrate von etwa 2,5% sollten dabei inflationsdämpfende Effekte vonseiten der Energie- und Nahrungsmittelpreisen gegenüberstehen.
Abb. 10: Inflation vor steilem Abwärtspfad

Die Anzeichen für einen scharfen Rückgang der Inflationsrate im laufenden Jahr verdichten sich. Viele Prognostiker dürften vom Ausmass des Rückgangs überrascht werden. Unsere Prognose eines Verbraucherpreisanstiegs um 5,0% liegt mehr als 1,0%-Punkte unter der aktuellen Konsensusprognose. Die EZB erwartet ein Plus von 6,3% und wird nicht umhinkommen, ihre Einschätzung in den kommenden Monaten nach unten anzupassen.
Im Zuge des markanten Inflationsrückgangs werden sich auch die Inflationserwartungen der Konsumenten, der Arbeitnehmer und der Finanzmarktakteure zurückbilden. Wir gehen daher davon aus, dass der EZB-Rat den Leitzins nach zwei weiteren Zinsschritten im Februar und im März um je 50 Bp nicht weiter anhebt. Im Gegenteil: Angesichts des unserer Einschätzung nach eingetrübten konjunkturellen Umfelds sowie der sich aufhellenden Inflationsperspektiven halten wir sogar eine Reduktion des Straffungsgrads gegen Ende des Jahres für wahrscheinlich. Der Einlagensatz dürfte von seinem zyklischen Hoch bei 3,00% auf 2,50% gesenkt werden – an den Geldterminmärkten ist für Ende 2023 aktuell hingegen ein Einlagensatz von knapp 3,50% eingepreist.
Die kleine Korrektur bei den Zinsen wird jedoch nicht der Auftakt zu einer Zinssenkungswelle sein. Angesichts der strukturellen Verschiebungen am Arbeitsmarkt (Stichwort: Arbeitskräftemangel) sowie der Aussicht auf eine auf Jahre hinaus erhöhte Kerninflationsrate, rechnen wir damit, dass die Notenbank die Leitzinsen im nächsten Aufschwung erneut deutlich anhebt.
Rechtlicher Hinweis
Die in diesem Beitrag gegebenen Informationen, Kommentare und Analysen dienen nur zu Informationszwecken und stellen weder eine Anlageberatung noch eine Empfehlung oder Aufforderung zum Kauf oder Verkauf von Anlageinstrumenten dar. Die hier dargestellten Informationen stützen sich auf Berichte und Auswertungen öffentlich zugänglicher Quellen. Obwohl die Bantleon AG der Auffassung ist, dass die Angaben auf verlässlichen Quellen beruhen, kann sie für die Qualität, Richtigkeit, Aktualität oder Vollständigkeit der Angaben keine Gewährleistung übernehmen. Eine Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich aus der Nutzung dieser Angaben ergeben, wird ausgeschlossen. Die Wertentwicklung der Vergangenheit lässt keine Rückschlüsse auf die künftige Wertentwicklung zu.

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