Kommentar
5. September 2022

Die Fehler der Vergangenheit holen die EZB ein

Mit viel Tamtam hatte die EZB im Sommer 2021 ihre neue geldpolitische Strategie vorgestellt. Die wichtigste Anpassung betraf das mittelfristige Inflationsziel. Der Zielwert liegt nun nicht mehr bei knapp unter 2,0%, sondern bei genau 2,0%. Angesichts einer Inflationsrate von 9,1% im August sowie der Aussicht auf bald schon zweistellige Werte wirkt diese Änderung inzwischen beinahe grotesk und ist ein Sinnbild für die gescheiterte Geldpolitik der vergangenen Quartale. 

Trotz der sich ab spätestens Herbst 2021 verdichtenden Anzeichen eines langanhaltenden und kräftigen Überschiessens des eigenen Inflationsziels stemmte sich eine Mehrheit der Währungshüter noch bis zum Frühjahr dieses Jahres gegen Zinsanhebungen. Als Hauptargument dienten den Tauben im EZB-Rat die langfristigen Inflationsprojektionen, die für das jeweils übernächste Jahr stets einen Rückgang der Inflationsrate unter das Notenbankziel auswiesen. 

Mittlerweile ist klar, dass diese Strategie der geldpolitischen Feinsteuerung fehlgeschlagen ist. Die Inflationsprognosen haben sich ein ums andere Mal als viel zu niedrig herausgestellt. 

Inzwischen ist auch bei EZB-Präsidentin Christine Lagarde die Erkenntnis gereift, dass die eigenen Prognosen auch nur Prognosen sind und keineswegs eine zutreffende Beschreibung der Zukunft. In einem bemerkenswerten Interview hat sie das jüngst eingeräumt. Für sie folgt daraus, dass sich die Notenbank bei ihren Zinsentscheidungen künftig wieder stärker an klassischen Kenngrössen orientieren sollte. Dazu gehören beispielsweise die aktuelle Inflation sowie kurzfristige, besser abzuschätzende Inflationsindikatoren. Der bisher weit in die Zukunft gerichtete Ansatz wird hierdurch zurechtgestutzt. 

Der Fokus der Geldpolitik wird daher in den kommenden Monaten auf der gegenwärtigen Rekordinflation liegen und weniger auf den Aussichten für 2024 oder gar 2025. Die Hütte brennt jetzt und die EZB muss löschen. Einerseits, um ihre bereits stark beschädigte Glaubwürdigkeit wieder herzustellen, die sich unter anderem am Sinkflug des Euros gegenüber dem Dollar ablesen lässt. Andererseits riskierte man bei anhaltend zögerlichem Handeln ein Entgleiten der Inflationserwartungen. 

Mithin bleibt den Währungshütern nichts anderes übrig, als die Leitzinsen in den kommenden Monaten trotz des sich abzeichnenden Konjunkturabschwungs in der Eurozone spürbar anzuheben. Auf den Zinsschritt in dieser Woche um 50 Bp oder 75 Bp dürfte im Oktober eine weitere Anhebung um 50 Bp folgen, sowie eventuell noch ein Schritt im Dezember um 25 Bp.

Somit rächt sich jetzt das viel zu lange Zögern bei der geldpolitischen Normalisierung. Allerdings werden die Falken aus unserer Sicht nicht lange im EZB-Rat die Oberhand behalten. Vielmehr dürften schon bald die Tauben wieder Morgenluft wittern. Das konjunkturelle Umfeld wird sich unserer Einschätzung nach in den nächsten Monaten so stark eintrüben, dass weitere geldpolitische Straffungen nicht mehr vertretbar sind. Wir gehen daher davon aus, dass die EZB spätestens Anfang 2023 eine Zinsanhebungspause einlegen und den Leitzins nicht wie vom Markt eingepreist rasch auf über 2,0% nach oben führen wird. Man kann es somit drehen und wenden, wie man will: Die EZB ist einfach zu spät dran. 

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