Analyse
8. April 2022

Der Arbeitsmarkt in der Eurozone brummt

In der Eurozone herrscht Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosenquote sank jüngst auf ein 40-Jahres-Tief und Unternehmen suchen händeringend Mitarbeiter. Deswegen und angesichts der rekordhohen Inflation werden die Arbeitnehmer markante Lohnzuwächse fordern und auch durchsetzen können. Neben den massiv gestiegenen Rohstoffkosten tut sich für die Unternehmen somit eine zweite Front in Sachen Kostendruck auf. Vielen wird nichts anderes übrig bleiben, als in Reaktion die Preise anzuheben. Die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale sind somit geschaffen. Die EZB wird auf diese neue Inflationswelt mit einer merklichen Straffung der Geldpolitik reagieren und aller Voraussicht nach noch in diesem Jahr damit beginnen, die Leitzinsen aus dem negativen Bereich nach oben zu führen.

Arbeitslosenquote auf 40-Jahres-Tief

In den vergangenen Monaten und Quartalen war die mediale Aufmerksamkeit mit Blick auf die Konjunktur in der Eurozone gänzlich auf die aus dem Ruder laufende Inflationsdynamik gerichtet. Eine andere, hocherfreuliche Entwicklung geriet dabei fast völlig aus dem Blick: der brummende Arbeitsmarkt. Der dortige Aufschwung fand seinen vorläufigen Höhepunkt im Februar, als die Arbeitslosenquote auf 6,8% sank. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der offiziellen Datenerhebung im Jahr 1998 und unseren Berechnungen zufolge sogar das tiefste Niveau seit mindestens 40 Jahren (vgl. Abbildung 1).

Abb. 1: Arbeitslosenquote strebt immer neuen Tiefstständen entgegen

Quellen: Eurostat, Bantleon; * Arbeitslose zuzüglich unfreiwillig in Teilzeit Beschäftigter und freiwillig Unbeschäftigter

Besonders erfreulich ist die Tatsache, dass der Rückgang der Arbeitslosenquote »echt« ist. Er verschleiert nicht etwa, wie zuweilen behauptet, eine deutlich ungünstigere Lage am Arbeitsmarkt, weil beispielsweise eine grosse Zahl Beschäftigter in Kurzarbeitsprogrammen steckt, statt entlassen worden zu sein oder weil sich Menschen mangels Erfolgsaussichten vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Das zeigt der Blick auf die sogenannte Unterbeschäftigungsquote. Sie erfasst neben den offiziell als arbeitslos gemeldeten Personen auch diejenigen, die zwar arbeiten könnten, sich aus den verschiedensten Gründen jedoch nicht um eine Stelle bemühen. Darüber hinaus umfasst sie auch die Arbeitnehmer, die lediglich in Teilzeit beschäftigt sind, obwohl sie gerne in Vollzeit arbeiten würden. Zwischenzeitlich – von Mitte 2020 bis Mitte 2021 – fiel der Anstieg der Unterbeschäftigungsquote überproportional gross aus und dämpfte so die Aufwärtsbewegung der Arbeitslosenquote. Im 2. Halbjahr 2021 ging sie jedoch wieder merklich zurück und lag Ende des vergangenen Jahres ebenso wie die Arbeitslosenquote unter dem Vorkrisenniveau von Anfang 2020 (vgl. Abbildung 1).

Beschäftigung und offene Stellen auf Rekordniveau

Erstaunlich ist auch die Beschäftigungsentwicklung der vergangenen Quartale. Trotz der seit zwei Jahren immer wiederkehrenden Belastungen durch Corona-Restriktionen sowie der dadurch ausgelösten massiven Beeinträchtigung vor allem der konsumnahen Dienstleistungsbranchen hat die Zahl der Beschäftigten das Niveau von Ende 2019 bereits im 4. Quartal 2021 wieder überschritten (vgl. Abbildung 2). Zugleich gibt es in der Eurozone aktuell so viele offene Stellen wie nie zuvor seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 2006 (vgl. Abbildung 2).

Der Bedarf an Arbeitskräften dürfte in den kommenden Quartalen nochmals kräftig steigen. Zum einen ist davon auszugehen, dass die Nachfrage angesichts der inzwischen in allen Euroländern beschlossenen Lockerungsmassnahmen insbesondere in den personalintensiven Bereichen Freizeit, Gastronomie, Tourismus sowie Sport und Kultur erheblich anzieht. Zum anderen dürften viele Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes neues Personal suchen, wenn sie sich bei der früher oder später zu erwartenden Entspannung in Sachen Materialknappheit daranmachen können, ihre enormen Auftragsbestände abzuarbeiten. Die Aussichten auf weitere Beschäftigungszuwächse bzw. einen fortgesetzten Rückgang der Arbeitslosenzahlen sind mithin äusserst günstig. Wir rechnen daher mit einem Zurückweichen der Arbeitslosenquote bis Ende dieses Jahres auf leicht über 6%, 2023 halten wir ein Unterschreiten der Marke von 6% für wahrscheinlich.
 

Abb. 2: Beschäftigungszuwächse sind programmiert

Quellen: Eurostat, Bantleon

Behalten wir mit dieser Einschätzung recht, wird das nicht ohne Folgen für die Lohnentwicklung bleiben. So schätzt die EU-Kommission die sogenannte NAWRU (non-accelerating wage rate of unemployment), also die Arbeitslosenquote, die noch nicht zu einem übermässigen Lohndruck führt, in der Eurozone für das laufende Jahr auf 7,1% und für 2023 auf 7,0%. Beide Werte sollten erkennbar unterschritten werden. Wir gehen daher davon aus, dass der Zuwachs der Tariflöhne in den nächsten ein bis zwei Jahren mindestens auf 3,0% anzieht und damit in die Nähe der bisherigen Höchstwerte kommt (vgl. Abbildung 3).

Abb. 3: Das Lohnwachstum wird bald anziehen

Quellen: Eurostat, EZB, Bantleon
Der Lohndruck wird merklich steigen

Der tatsächliche Lohndruck dürfte sogar noch stärker zunehmen, als dies in den Tarifabschlüssen zum Ausdruck kommen wird. Das liegt zum einen an der teils massiven Anhebung des Mindestlohns in zahlreichen Euroländern und zum anderen an der erwarteten Entwicklung der Lohndrift. 

Unter der Lohndrift versteht man die Differenz zwischen dem von den Tarifparteien vereinbarten Lohnzuwachs und dem tatsächlichen Lohnanstieg. Letzterer wird massgeblich durch Bonuszahlungen, Überstundenzuschläge und weitere individuelle Gehaltsvereinbarungen beeinflusst. In der Regel ist die Lohndrift positiv mit der Auslastung des Arbeitsmarktes korreliert. Das heisst, je geringer die Arbeitslosigkeit, desto stärker positiv ist die Lohndrift, sprich desto mehr müssen die Unternehmen ihren Arbeitnehmern über das tariflich Vereinbarte hinaus bieten.
 

Abb. 4: Mindestlohn steigt 2022 und 2023 massiv

Quellen: WSI Tarifarchiv, Bantleon; * ab 2022 Prognose Bantleon

Beim Thema Mindestlohn prescht Deutschland in diesem Jahr mit einer Erhöhung um 22% von aktuell 9,82 EUR auf 12,00 EUR ab Oktober vor. Im Jahresdurchschnitt ergibt sich ein Anstieg um rund 10%. In den übrigen Euroländern liegt das Plus bei durchschnittlich 3,5%, sodass sich für das gemeinsame Währungsgebiet im laufenden Jahr ein Zuwachs um 6% ergibt. Vor dem Hintergrund des aktuell starken Verbraucherpreisanstiegs ist davon auszugehen, dass der Mindestlohn 2023 noch stärker steigt. Wir rechnen für die Eurozone mit etwa 8% (vgl. Abbildung 4).

Ein Indikator, der die effektiven Lohnkosten der Unternehmen besser abbildet, als die Tariflöhne das tun, ist das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer. Die entsprechende Vorjahresrate war bereits Mitte 2016 auf einen erkennbaren Aufwärtstrend eingeschwenkt, nachdem der Zuwachs in den Jahren zuvor infolge der globalen Finanzkrise und der Eurokrise merklich gedämpft worden war. Ende 2021 lag das Plus bei 3,5%. Unter Ausklammerung der Verwerfungen im Zuge des Corona-Schocks ist dies das höchste Niveau seit dem 3. Quartal 2008 und das zweithöchste seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 1995 (vgl. Abbildung 5). 

Abb. 5: Die Lohnkosten der Unternehmen steigen stärker, als es das Tariflohnwachstum suggeriert

Quellen: EZB, Bantleon

Für die Unternehmen der Eurozone tut sich mithin eine zweite Kostenfront auf: Nachdem sie bereits unter den massiv gestiegenen Preisen für Rohstoffe, Vorprodukte und Transport leiden, werden ihre Lohnkosten spürbar stärker zunehmen als in den Jahren vor der Pandemie. Im Wettbewerb um (qualifizierte) Arbeitskräfte wird den Unternehmen jedoch kaum etwas anders übrig bleiben, als höhere Löhne zu zahlen. Schon jetzt klagen so viele Unternehmen wie nie zuvor über Schwierigkeiten, geeignete Mitarbeiter zu finden (vgl. Abbildung 6).

Abb. 6: Engpässe gibt es nicht nur bei Material, auch an geeigneten Mitarbeitern mangelt es

Quellen: EU-Kommission, Bantleon
Alle Zutaten für eine Lohn-Preis-Spirale sind vorhanden

Die Unternehmen sind aktuell dabei, ihre im Zuge der Corona-Pandemie massiv gestiegenen Kosten auf die Konsumenten zu überwälzen. Gemäss den Einkaufsmanagerumfragen vom März heben so viele Unternehmen ihre Preise an wie noch nie zuvor seit Beginn der Datenerhebung (vgl. Abbildung 7). Inzwischen trifft das nicht mehr nur auf Firmen des verarbeitenden Gewerbes zu, sondern auch auf Dienstleistungsunternehmen. 

Unter anderem deswegen wird die Kerninflationsrate – ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel – in den kommenden Monaten auf Werte zwischen 3,5% und 4,0% klettern. Wir gehen davon aus, dass sich der gegenwärtige Kostendruck in den nächsten Quartalen zumindest teilweise zurückbildet, beispielsweise bei den Energiepreisen und den Frachtkosten. Ausgehend von 3,2% im laufenden Jahr sollte die Kerninflationsrate daher wieder etwas nachgeben, die 2,0%-Marke jedoch in absehbarer Zeit nicht mehr unterschreiten. Im Jahresdurchschnitt 2023 und 2024 erwarten wir einen Anstieg um etwas mehr als 2,0%. 
 

Abb. 7: Unternehmen überwälzen Kosten in einem Ausmass wie nie zuvor

Quellen: S&P Global, Bantleon

Man darf sich von dieser Entwicklung aber nicht täuschen lassen. Zum einen ist der aussergewöhnlich starke Anstieg in diesem Jahr durch Aufholeffekte im Zuge der Normalisierung der Konsumnachfrage getrieben. Zum anderen bedeuten auch Kerninflationsraten von dauerhaft mehr als 2,0% verglichen mit den zehn Jahren vor Ausbruch der Corona-Pandemie eine neue Inflationswelt. Zwischen 2010 und 2019 legte die Kerninflationsrate durchschnittlich nur um 1,1% pro Jahr zu. 

Bleibt die unterstellte Entlastung bei Rohstoffen, Vorprodukten, Frachtkosten etc. aus, könnte der unterliegende Preisauftrieb auch in den kommenden Jahren eher bei 3,0% liegen als bei den von uns aktuell unterstellten gut 2,0%. In diesem Fall bestünde angesichts der angespannten Situation am Arbeitsmarkt die ernsthafte Gefahr des Entstehens einer Lohn-Preis-Spirale, da die Arbeitnehmer in Erwartung dauerhaft hoher Inflationsraten versuchen dürften, noch höhere Lohnabschlüsse durchzusetzen. 

Fazit

Der Arbeitsmarkt in der Eurozone brummt. Während die Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr, suchen Unternehmen händeringend Mitarbeiter. Die Chancen auf einen kräftigen Beschäftigungszuwachs in den kommenden Quartalen stehen mithin äusserst günstig. Die Arbeitnehmer haben somit eine aussergewöhnlich gute Verhandlungsposition in Sachen Lohnzuwachs. Zumal sie zumindest einen Teil ihrer Reallohnverluste der Jahre 2021 und 2022 wettzumachen versuchen werden. 

Die Unternehmen kommen in der Folge immer stärker unter Druck, einen Teil der gestiegenen Belastungen auf die Konsumenten abzuwälzen. Als Konsequenz zeichnen sich dauerhaft erhöhte Inflationsraten ab. Es besteht somit in den nächsten Jahren die ernst zu nehmende Gefahr sich hochschaukelnder Preise und Löhne. Der Nährboden für eine Lohn-Preis-Spirale ist damit bereitet. 

Die EZB wird auf das neue Inflationsregime mit einer merklichen Straffung der Geldpolitik reagieren und aller Voraussicht nach noch in diesem Jahr damit beginnen, die Leitzinsen aus dem negativen Bereich nach oben zu führen. Nach zwei Zinsschritten beim Einlagensatz à 25 Bp bis Ende 2022 dürften 2023 mindestens sechs weitere Anhebungen in gleicher Grössenordnung folgen. Ziel sollte es sein, mindestens das neutrale Zinsniveau zu erreichen, das wir bei 1,5% bis 2,0% sehen. Kristallisiert sich tatsächlich eine Lohn-Preis-Spirale heraus, wird die Notenbank nicht umhinkommen, die Zinsen in restriktives Terrain zu führen.

Momentan preisen die Geldterminmärkte in der Eurozone jedoch »nur« ein Zielniveau bei den Leitzinsen von 1,40% ein. Bei den Renditen deutscher Staatsanleihen ergibt sich somit weiteres Aufwärtspotenzial. Das Gros des Anstiegs bei 10-jährigen Bundesanleihen dürfte allerdings bereits hinter uns liegen. Wir sehen noch Luft bis 1,0%. Zudem dürfte der Weg dorthin vor dem Hintergrund der diversen Risikofaktoren (Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie in China) weniger geradlinig ausfallen als es bisher der Fall war.

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